Konzentration und Kontemplation

Aus Georg Kühlewind, „Bewusstseinsstufen“, 2. Auflage, 1980, „Konzentration und Kontemplation“, S.37, Verlag Freies Geistesleben

Das letzte Ziel der Konzentration ist die Kontemplation, die Verwirklichung eines Selbstes, das die eigene Denktätigkeit erfährt, d.h. schaut, indem es sie erzeugt. Diesem Ziel kann man sich nur auf »Umwegen« nähern, weil das »Denken an sich« zunächst nicht erscheinen kann, da es an ein Thema gebunden ist, und weil das Selbst zunächst nur in seinem Spiegelbild da ist: in der Vorstellung des Ich, das mit den Hüllen identifiziert als Ego erlebt wird. Das Ego muß etwas denken. Es kann das aber nicht direkt tun, es kann nur um etwas herum denken. Das ungestört zu tun ist der erste Schritt der Übung.
Der Zeitpunkt der Übung soll einer sein, an dem man möglichst wach, nicht ermüdet, ruhig und gelassen ist. Dies ist individuell verschieden. Man soll deshalb vorsichtig versuchen, den geeigneten Zeitpunkt während des Tages- oder Wochenlaufes zu finden. Sitzend (nicht liegend), unverkrampft, die körperliche Verkrampfung bewußt lösend, sachlich, ohne »Heiligenschein um das Haupt«, mache man sich an die Übung; wie man sich z. B. auch zum Üben des Klavierspielens an den Flügel setzen sollte. (Nur dem Dilettanten ist die Kunst »heilig«. Deshalb bringt er es aus lauter Ehrfurcht vor ihr zu nichts. )

Konzentration auf einen Gegenstand

Der Gegenstand sei ein vom Menschen geschaffenes, einfaches Ding, kein Naturobjekt (z B. Pflanze), denn dieses durchschaut man vorerst nicht. Deshalb ist auch der Gegenstand nur in seinem Geschaffensein zu denken, nicht in seiner Stofflichkeit, die Natur ist. Der Gegenstand sei uninteressant, auch ästhetisch indifferent, löse keine Emotionen, wie z. B. Gefallen oder Mißfallen, aus. Man schaue ihn nicht an, man denke über ihn. Es ist ratsam, dabei die Augen zu schließen. Das Anschauen des Gegenstandes verhindert die Konzentration. Diese ist ausschließlich im Denken durchzuführen. Die Gedanken umkreisen den Gegenstand: Form, Farbe, Herstellung, Funktion usw. werden gedacht. Die Vorstellung des Gegenstandes werde aus der Erinnerung gebildet und beschrieben. Das Denken soll nicht nur von ablenkenden Gedanken frei, sondern auch von sich selbst nicht gestört sein: das in der Zukunft zu Denkende soll seine Schatten nicht vorauswerfen; das einmal (gestern) Gedachte soll nicht erinnerungsmäßig wiederholt werden, denn das wäre kein Denken mehr. Das Denken verlaufe absolut in der Gegenwart, wo möglich (aber das ist fast nicht zu erreichen) durch gleichmäßiges Wollen von Augenblick zu Augenblick in gleichmäßiger Intensität. Das gestrige Denken in Erinnerungen heranzuziehen, lenkt ab, was die Übung langweilig macht und man dann nach einigen Übungstagen geneigt ist, das Thema zu wechseln. Erinnern an das einmal Gedachte ist kein Denken. Das einmal Gedachte ist ebenso Ablenkung, wenn es wiederkehrt, wie alles andere, das nicht aus dem gegenwärtig gewollten Denken stammt. – Man kann jeden Tag genau dasselbe denken, ohne zu merken, daß es dasselbe ist. Denn außer dem gegenwärtigen Denken ist alles andere vergessen, es existiert nicht.
Das Wollen soll nicht in eine Verkrampfung führen, denn in der Verkrampfung erlischt das Denken sofort. Die Verkrampfung entsteht meist durch das Abwehren der Ablenkungen. Deshalb ist es wichtig, daß man zunächst einen kurzen Gedankenzusammenhang fest konturiert denkt: >,Der Löffel ist aus Silber. Er hat einen Stiel und … Er dient zum … Er wird durch Gießen oder Stanzen gemacht … « Wenn Ablenkungen auftauchen, dann versuche man, ohne Abwehr, mitten durch sie hindurch, auf das Thema zu schauen. Der Kampf gegen sie würde sie erst recht in die Mitte des Bewußtseins stellen und das vorgenommene Thema verdrängen. Die Ablenkung kann auch in einem »Schweifen der Gedanken« bestehen, wenn man zu weit vom Thema abweicht. Bemerkt man dies, mache man halt und versuche, die Assoziationsbrücken zu finden, durch die man abschweifte. Findet man sie nicht mehr, so kehre man zum Thema zurück. – Ablenkungen, störende Gedanken und Vorstellungen, können neben dem gewollten Gedankenverlauf auftreten. Man versuche sie zunächst nicht abzuwehren, sondern sich einfach nur dem Thema zuzuwenden. Wenn das nicht gelingt, schaue man »über die Schulter der Störung« auf das Thema. Hilft auch das nicht, so blicke man die störende Vorstellung einen Augenblick ganz genau an und wende sich dann zum Thema zurück.

Jedem ist der Einsatz individueller Techniken, der Störungen Herr zu werden, nach eigenem Ermessen freigestellt. Aber das Beste ist, unbekümmert weiterzudenken. Es macht nichts, wenn weiterhin ablenkende Vorstellungen einfallen. Mit der Zeit nehmen sie ab. (Jeder Pianist kann danebengreifen. Das ist halb so wichtig! Ein Spiel im edlen Sinne.)
Wenn man so weit ist, wird der Umkreis des Themas von selbst immer kleiner. Das Denken wird intensiver. Man braucht nicht mehr so viel »Stoff«, um beim Thema zu bleiben. Dies geschieht wie von selbst. Das Denken beginnt zu leben: Der Wille, der zuerst von außen das Denken wollte, lebt im Denken als Spontaneität auf und verwandelt sich in ein Wollen, das das Denken von innen heraus »rollen« läßt, indem es eins mit dem Denken wird. Von diesem Moment an steht die Übung in der Freude, unabhängig ob »es gelingt« oder nicht. Eine gestörte Übung kann sehr viel wert sein; kann sich doch die obengenannte Vereinigung des Denkens mit dem Willen in zeitlosen Augenblicken ereignen. Man will nach und nach nicht mehr, man tut es. Es wird zum Spiel. Man will nicht spielen: man spielt. Es entsteht eine »Seligkeit«, alles wird natürlich und ungezwungen. Diese Seligkeit aber ist nicht festzuhalten; sie ist kein bleibender Zustand, der das Bewußtsein erfüllt. Dadurch würde man wieder abgelenkt. Es existiert – und das ist das Ideal – nichts anderes als das Thema. Einzig und allein das Thema wird gedacht und nicht etwa an das Gelingen oder Nichtgelingen der Übung. Auch die Anweisungen werden nicht gedacht. »Je mehr ich bemerke, was ich tue, desto weniger tue ich es«. – Die Konzentration bekommt eigenen Schwung.

Das Gelingen der Übung ist eigentlich nicht so wichtig wie die Übung selbst. Wenn man die »spielerische« Einstellung hat, gelingt es viel eher. Wenn die Störungen, die neben dem Denken auftreten, sehr intensiv und auf obigen Wegen nicht zu eliminieren sind, so kann man die Übung auf eine minimale Zeitdauer reduzieren, z. B. auf eine oder auch nur eine halbe Minute. Wenn es nach und nach gelingt, die Übung in voller Konzentration durchzuführen, kann die Dauer derselben erweitert werden. – Alle diese Anweisungen sind allgemein: ein jeder muß seine eigenen Anweisungen seinen Erfahrungen entnehmen.
Wenn die Ablenkungen im Abschweifen vom Thema bestehen und nicht abnehmen wollen, so mache man noch kleinere Schritte, nehme kurze Gedanken, denke einen Gedanken z. B. zweimal, aber man muß denken – nicht wiederholen.
Der Kreis, in dem sich das Denken um das Thema herum bewegt, wird von selbst immer kleiner, zugleich wird das Denken immer intensiver, ja langsamer. Diese Verlangsamung erfolgt in richtiger Weise dann, wenn man von dem Wort-Denken abkommt. Zunächst denkt man in Worten und in Vorstellungen. Bei der Intensivierung kommt man dazu, immer mehr das Thema zu denken, nicht nur die Worte und Vorstellungen. Zum Wort-Denken muß man viel Stoff haben, sonst bleibt das Denken stehen, denn das Denken dauert nur solange, als man sich die Wörter innerlich vorsagt, vorstellt. Je abstrakter diese sind, desto rascher geschieht dies. Deshalb nehme man am Anfang nichts Begriffliches (Güte, Dreieck), sondern einen bestimmten Gegenstand (Löffel, z.B. mit Monogramm) als Thema. Der Gegenstand wird beschrieben, vorgestellt und, wo es geht, innerlich gesehen, ebenso alle weiteren Gedanken, die dazugehören. Parallel zur Intensivierung fallen die Worte immer mehr weg. Das Denken wird intensiver, weil es sich auf immer weniger stützt.

Das über die erste Stufe Gesagte kann fast unbegrenzt ergänzt werden. Es ist nützlich, neue Erkenntnisse, die man während der Übung gewinnt und die sich auf deren Technik beziehen, als »Ergänzung« schriftlich festzuhalten. So kann man z. B. erfahren, daß man zunächst geneigt ist, nicht kontinuierlich, sondern intermittierend zu denken: man denkt einen »Satz« (d. h. ein Motiv), dann ruht man sich aus und denkt dann erst einen zweiten. Die Gefahr ist, daß man während des »Ausruhens« abgelenkt wird. Man muß versuchen, die Konzentration kontinuierlich auszuführen, sonst geht sie leicht über in mehr oder weniger zusammenhangslos aneinandergereihte Bilder, also in ein Nicht­ Denken.
Es gibt Menschen, die mehr bildlich, in Vorstellungen, und andere, die mehr abstrakt zu denken geneigt sind. Es ist ratsam, beide Arten der Konzentration zu üben, z. B. täglich wechselnd, einmal mehr abstrakt, einmal mehr bildlich. Das Bildliche dient auch als Vorstufe zur Imagination, das Abstrakte (nicht Bildhafte) kommt zu seinen Rechten in der zweiten Stufe der Konzentration.

Wenn die Übung soweit gut geht, man schon Freude daran bekommen hat, sich nicht mehr langweilt und bei einer Vorstellung verharren kann, ohne viel Worte zu denken, dann kann in die zweite Hälfte oder Stufe der Übung übergegangen werden. Die erste Stufe ist aber durchaus ein Ganzes, und bei intensivem Üben kommt man eigentlich von selbst weiter.

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