Gleichmut

Die dritte Übung besteht in der Ausbildung einer gewissen Stabili­tät gegenüber Schwankungen von Lust und Leid, Freude und Schmerz. Das »Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt« soll mit Bewußtsein durch eine gleichmäßige Stimmung ersetzt werden. Man gibt auf sich acht, daß keine Freude mit einem durchgehe, kein Schmerz einen zu Boden drücke, keine Erfahrung einen zu maßlo­sem Zorn und Ärger hinreiße, keine Erwartung einen mit Ängstlich­keit oder Furcht erfülle, keine Situation einen fassungslos mache usw. Die Gefühle sollen erlebt werden. Ein Erfreuliches soll die Seele erfreuen, ein Trauriges soll sie schmerzen. Sie soll nur dazu gelangen, den Ausdruck von diesen Gefühlen zu beherrschen. Strebt man dieses an, so wird man alsbald bemerken, daß man nicht stumpfer, sondern im Gegenteil, empfänglicher wird für alles Er­freuliche und Schmerzhafte der Umgebung, als man früher war.

In einem etwas anderen Zusammenhang wurde das Grundmotiv dieser Übung im Kapitel 4.3 beschrieben. Ihre Frucht besteht in einer inneren Ruhe, die von Zeit zu Zeit spontan auftritt. Dieses ist für den ganzen Schulungsweg das, was das Fundament für ein Gebäude ist. Ein angeborener oder im Alltagsleben ausgebildeter Gleichmut ersetzt den durch Übung erworbenen nicht. Einerseits sichert die Gelassenheit im Alltagsleben überhaupt nicht, daß man beim Aufsteigen in lebendigere Bewußtseinsebenen oder in höhere Welten nicht sein Gleichgewicht verliert. Andererseits bildet sich eine nicht bewußt erworbene Gelassenheit fast immer auf Kosten der Empfindlichkeit, die für das Erkennen notwendig ist.

Im einzelnen richtet diese Übung die Aufmerksamkeit auf die Gefühlsstürme, die aufgrund von unangenehmen oder angeneh­men Erlebnissen entstehen. So reißt z.B. ein tiefer Schmerz die sonst im Erfahren der Umgebung tätigen Seelenkräfte knotenartig zusammen und stellt sie in seinen eigenen Dienst. Die Kraft, die üblicherweise im Achten auf die nähere oder entferntere Umge­bung lebt, verliert ihre Autonomie. Das Achten auf den Schmerz wird nicht durch den Willen gelenkt, der sonst in der Aufmerksam­keit lebt, die Aufmerksamkeit ist ein leerer Wille. Die Aufmerksam­keit bleibt meisterlos und ohnmächtig: dadurch wird die Empfin­dung des Schmerzes gesteigert und übertrieben, auch durch die Empfindung der Ohnmacht. Es kann soweit gehen, daß die Seele ihre Verbindung mit der Willensbewegung, durch die die Aufmerk­samkeit gelenkt wird, ganz verliert: dann treten nervöse Erkrankun­gen auf. Die Ohnmacht kann auch in die Sphäre des nicht-bewußten Willens übergreifen, der die spontane Harmonie der Lebenspro­zesse steuert: so entstehen Krankheiten im physischen Organismus.

Wenn durch einen Schmerz solcher Zusammenbruch erfolgt, sollen nicht einfach seine äußeren Zeichen unterdrückt werden. Die konzentrierte Aufmerksamkeit soll das meisterlose, ohnmäch­tige, bewegungsunfähige Gefühl des Schmerzes aufsuchen, das sich in einen fast körperlich spürbaren Punkt zusammengezogen hat. Dieses Aufsuchen geschieht durch die Konzentration auf die Tatsa­che, die den Schmerz verursacht, durch willentliches Denken an sie. Dann soll durch denselben Willen das verursachte Gefühl aufgesucht werden: Wir wollen üblicherweise den Schmerz vermei­den; in dieser Übung tun wir das Gegenteil davon: wir suchen sein Wesen auf. Die Entdeckung des schmerzlichen Gefühls – von einer Tatsache ausgelöst – in der zweiten Phase der Konzentration, die jetzt nicht auf die Tatsache, sondern auf das Gefühl gerichtet ist, bedeutet, daß das Gefühl jetzt von einer Wiege, von einer streicheln­den Hand umgeben ist – der Aufmerksamkeit -, in der ganz sicher­lich nichts von jenem Schmerz zu finden ist. Das Gefühl, in die Aufmerksamkeit gebettet, verliert seinen zusammengezogenen, schmerzenden punktuellen Charakter. Es löst sich und lebt weiter in der Seele mit dem Charakter der unerschütterli­chen Ruhe, die den ganzen Menschen in sich faßt.

Auch ein überschwengliches Gefühl der Freude kann die in dem Erfahren der Umgebung tätigen Seelenkräfte, den Willen, die Auf­merksamkeit in ihr Gegenteil umkehren. Der Mensch empfindet sich so, als ob er über seine Leibesgrenzen hinaustreten würde, als ob die Gliedmaßen ihm nur »nachfolgen« würden. Es können auch seine Worte unbedacht den Gedanken vorauseilen, er »verzeiht« alles, es berührt ihn nichts, worauf er sonst empfindlich reagiert.

Dieses Überschlagen steigert und übertreibt die Freude, die durch eine angenehme Tatsache verursacht wurde. Die Freude rührt da­her, daß der Mensch herausschlüpft aus seiner bisherigen Empfind­lichkeit. Das Herausschlüpfen ist passiv »erreicht«, so reicht es nicht aus, die Freude dauerhaft und zur Erfahrung zu machen. Der Wille des Erfahrens ist im Erlebnis nicht anwesend, so reicht es nicht zum Sich-Erheben der Seele. Das Überschlagen wird durch ein verborgenes Gefühl der Angst, daß die Freude verlorengeht, gesteigert. Das Sich-Empfinden in einem ausgeweiteten Dasein ist nämlich keine Wirklichkeit: es kann aufgrund eines nachfolgenden Erlebnisses in jedem Augenblick zusammenstürzen wie ein Luftschloß.

Die gute Laune kann Wirklichkeit und keine Gleichgewichtsstö­rung sein, wenn sie nicht durch das Verlorengehen des Willens entsteht und sich steigert. Wenn sie durch Gleichgewichtsstörung entstanden ist oder sich entwickelt hat, kann das Gemütsleben durch eine nächste, unangenehme Einwirkung unter die Ebene des normalen Zustandes sinken und depressiv werden. Oft ist dazu gar kein neueres Erlebens notwendig, es fällt durch seine Ohnmächtigkeit, durch Willensmangel unter den Pegel der mehr kontrollierten Gefühle.

Das Gefühlsleben ist umsomehr das Opfer von Katastrophen, je weniger wir es erfahrend erleben wollen. Das Umkippen ist das Überspringen der Aufmerksamkeitskräfte in eine Zone, in der das Erfahren dem Menschen nicht möglich ist. Diese verborgene Ab­sicht wird nicht von dem hellen Willen eingegeben. Das Überschla­gen hat oft die Freude als Mittel. Es wurde zur allgemeinen Mei­nung, daß richtige Freude nur durch ein Überschlagen in einen Rausch entstehen kann, in dem in der Seele die Aufmerksamkeit breitspurig ausgelöscht wird.

Wenn die Kraft der Konzentration in dem angenehmen Erlebnis beim Gefühl bleibt und dieses nicht als Sprungbrett des Über­schlagens benutzt wird, so daß die Kraft wohnen kann im Gefühl, dann verliert die Freude ihren Oberflächencharakter und wird zu einem ruhigen innerlichen Erleben. Gelegentlich kann sie dem Erfahrenden dazu verhelfen, daß er verzeihe, daß er seine Selbst­empfindlichkeit und Verletzlichkeit abbaue.

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