Positivität

Die Pflege der Kraft, die im Denken wirkt, der das Denken seine reine, selbstlose Anpassungsfähigkeit an Umstände, Fragen, Pro­bleme verdankt, der Liebe geistiger Art, heißt Positivität. Man kann diese Seelenattitüde durch eine von Goethe angegebene persi­sche Legende über Jesus Christus gut verstehen. »Der Herr geht mit anderen Personen an einem verwesenden toten Hund vorbei. Während die anderen sich geekelt abwenden, spricht er mit Be­wunderung von den schönen Zähnen des Kadavers«. Diese Seelen­verfassung ist die Positivität. Das Ungute, das Häßliche, der Irrtum soll den Menschen nicht abhalten, das Gute, das Schöne und das Wahre überall zu suchen und zu bemerken, wo es vorhanden ist. Das bedeutet weder Kritiklosigkeit noch ein Verschließen der Au­gen vor dem Negativen. Wer die schönen Zähne des Tierleichnams bewundert, sieht auch die Verwesung. Das hält ihn nicht ab, das Schöne zu bemerken. Das Schlechte soll man nicht gut, das Schwarze nicht weiß nennen, aber das Schlechte soll uns nicht abhalten, das Gute zu entdecken. 

Diese Seelenverfassung wird uns belehren, den Standpunkt zu finden, aus dem heraus sich der Mensch liebevoll verstehend in ihm fremde Phänomene und Wesen versetzen kann und, an statt sie zu verurteilen, sich fragt: Wie kommt das andere dazu, so zu sein, so zu tun? Aus dieser Haltung stammt das wahre Mitleid und das Bestreben zu helfen, wo man kann, und auch die Urteilskraft, zu entscheiden, ob man helfen kann und wie man das am besten tut.

Die Empfindlichkeit gegenüber dem, was in der Umgebung vorgeht, öffnet sich und wächst über das Eigenwesen durch diese Übung hinaus. Man merkt vieles in der Umgebung, was einem früher entgangen ist. Positivität kann aufgefaßt werden als ein Mittel zur Wandlung der in jedem Menschen vorhandenen Unauf­merksamkeit. Die Umgebung wird etwas, was zu einem selbst gehört. Die Konzentriertheit ist eine Vorbedingung dieser Übung. Alles Stürmische, Leidenschaftliche, Affektvolle, wodurch das Be­wußtsein überschwemmt wird, wirkt vernichtend auf diese neue, nach außen gerichtete Empfindlichkeit. 

Die Übung der Positivität ist schwieriger, weil sie aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist. Wir werden täglich mit Ereignissen, Tatsachen, Menschen und Situationen konfrontiert, die wir negativ werten bzw. als negativ empfinden. Oft kommt es aber vor, daß sich die zunächst ganz negativ empfundenen Ereig­nisse später als positiv entpuppen. Die »Übung« – eigentlich ein vernünftiges, praktisches Verhalten – besteht aus zwei Schritten. Als erstes versuchen wir, an den Geschehnissen, Menschen, Situa­tionen etwas Positives zu entdecken. Diese »Entdeckung« muß eine Erkenntnis sein. Es handelt sich keineswegs darum, daß man das Schwarze weiß sieht, das Böse für Gutes erklärt; das wäre keine Übung, sondern Illusion oder Selbstbetrug. Das Positive soll er­kannt werden, darin besteht die Übung. Wenn man in der Gegen­wart nichts Positives findet, was ja vorkommen kann, dann fasse man die realen Möglichkeiten einer positiven Entwicklung ins Auge. Dabei ist jede Phantasterei zu vermeiden: das Positive soll erkannte Gründe, Anlagen in der Gegenwart haben, unbegründete Annahmen sollen vermieden werden. Hier zeigt sich die Komplexi­tät der Übung: es ist zugleich ein scharfes Beobachten und eine ebenso scharfe Unterscheidungsfähigkeit notwendig, um real Mög­liches von Illusionen zu unterscheiden – mitunter gar keine einfa­che Aufgabe.

Ist die erste Hälfte der Aufgabe gelungen, so kann es in das Praktische geführt werden. In bezug auf die Geschehnisse oder Situationen bedeutet das, daß wir aus dem eventuell Schlechten oder Bösen etwas Gutes zu machen versuchen. Allgemein ausge­drückt: man lernt an den Gegebenheiten. Dieses Lernen ist am besten so aufzufassen, daß man das Ungute zurückverfolgt bis zu seinen tiefen Wurzeln in mir: Die Frage lautet so: wann begann eigentlich die betrachtete Geschichte oder die Situation? Man kann erstaunlich weit die Ursprünge verfolgen. Dann schaut man in die Zukunft: wie kann das erkannte Positive verwirklicht werden? Wir erinnern daran, daß es sich um eine Übung handelt, d.h. um einzelne Situationen oder Geschehnisse; um das ganze Leben so zu durchforschen und danach zu gestalten, reichen die Kräfte selten, denn es geht dabei um vertiefte Erkenntnisse. Doch wirkt der einzelne Fall, wenn er gemäß der Übung behandelt wird, gestaltend auf die ganze Lebensführung.

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