Unvoreingenommenheit

Das improvisierende Bewußtsein, in dem der Denkwille reifen soll, darf niemals die Unbefangenheit und Empfänglichkeit für neue Erlebnisse durch schon Erlebtes und Erfahrenes verlieren. Das Niegehörte, Niegesehene soll freudig entgegengenommen, nie ab­gewiesen werden. Alles kann dem Menschen immer etwas Neues sagen. Diese Seelenverfassung bedeutet nicht, daß man am Erleb­ten nichts lernt. Nur soll das schon Erlebte kein Maß für Neues sein, und man soll sich stets die Möglichkeit offenhalten, daß neue Erfahrungen den alten widersprechen können. So erwacht ein Vertrauen oder ein »Glauben«, daß der Übende durch seine Fähig­keiten alles Neue, wenigstens bis zum notwendigen Maße, verste­hen, meistern, alle Probleme lösen kann. Er klammert sich nicht an alte Meinungen, Erfahrungen, sondern vertraut seiner Intuition und verspürt die Möglichkeit, seine Ansichten, Meinungen zu ändern und zu berichtigen. Das Vertrauen zu seinem neuen Erkennen wandelt sich zu einem Vertrauen zu seinem neuen Tun. Er kann seine Unternehmungen, seine Absichten mit einem Vertrauen an diese verfolgen. Mißerfolge und Hindernisse lassen ihn nicht verza­gen, sondern entfachen in ihm neue Kräfte, um diese zu überwinden.

Je weniger der Mensch durch seine Vergangenheit in seinen Meinungen, Ansichten, Gewohnheiten fest geprägt ist, je mehr ihn seine vergangenen Erfahrungen und Erlebnisse an Fähigkeiten reich gemacht haben, umso leichter wird er Neues richtig aufnehmen können. Die Erfahrungen auf höheren Bewußtseinsstufen sind jedem Menschen neu, sie wiederholen sich nicht und weichen von den Erlebnissen des gewöhnlichen Lebens in ihrer Art vollständig ab. Es ist wieder die Empfindlichkeit, die durch das Achten auf die Unvoreingenommenheit wie aus dem Gewohnten herauswachsend den neuen Erlebnissen entgegentastet.

Die gewöhnliche Verkehrsform des Bewußtseins mit der Welt besteht im Ertasten der eigenen Grenzen, wo an diese ein Wesen, ein Ding, ein Geschehen heranbrandet. Diese Tastbewegung krümmt sich zurück in die Richtung des Selbstempfindens, weil die Bewußt­seinstätigkeit an den Grenzen keinen Übergang findet bzw. den Berührungspunkt nicht neutralisieren, von dem Charakter der Selbstempfindung befreien kann. Diese Empfindung der Grenze steigert sich und überschwemmt teils oder ganz die Begegnung mit dem Wesen, mit dem Geschehen.

Die Übung ist eigentlich die Neutralisierung der Bewußtseins­grenzpunkte, ihre teilweise Auflösung. Im Augenblick des Bemer­kens, Begegnens, Geschehens wacht meistens ein Gedanke, ein Gefühl von selbst auf, oder es bildet sich eine zusammenhängende Gedankenkette oder ein Urteil in bezug auf die Sache. Die Übung der Unvoreingenommenheit geht der Erweckung des Gedankens oder Urteils voraus oder lockert sie, weicht sie willentlich auf, wenn sie schon erschienen sind, und zerrüttet jede voreilige Schlußfolge­rung, jedes rasche Urteil. »So ist es«, »jetzt ist es so« – das wird gedacht. Dieser Schritt bedeutet ein aktives Erwarten, das bewußte Entleeren der Seelenstelle, wo wir sonst die Gefangenen unserer Denk- oder Gefühlsgewohnheiten sind. Wenn es gelingt, diese Haltung einzunehmen, beginnt das Fühlen fast gleichzeitig seine Härte, seine abweisende Kante, wodurch die Grenzen des Bewußt­seins bisher gepflegt und aufrecht erhalten wurden, zu glätten, zu mildern. Der Berührungspunkt mit dem Neuen – Geschehen, Wesen, Ding – wird so neutralisiert, verliert die automatische Funk­tion der abweisenden Grenze, die die bloße Information durchläßt, und es tritt die Erfahrung des Stils in dieser Berührung in den Vordergrund. Die Begegnung mit dem Neuen – und alles wird ein Neues – wird nicht an einem Punkt, sondern auf einer ganzen Linie, einer ganzen Fläche, in einem ganzen Raum vor sich gehen, der den Erfahrenden, die Erfahrung, das Geschehen, das Ding oder das Wesen zusammen in einer Einheit ohne Grenzen umfängt.

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